Die Gegenwart der Tragödie -
dieser Titel soll eine Behauptung aufstellen: die Behauptung, daß es auch gegenwärtig noch Tragödien gibt; daß die Tragödie nicht, wie seit dem romantischen Beginn der Moderne unablässig wiederholt wird, »antiquiert« (Friedrich Schlegel) geworden ist."
Die Gegenwart der Tragödie ist eine ästhetische, genauer: eine theatrale. Es gibt Tragödien nicht im Leben, sondern allein im Theater und damit für eine ästhetische Erfahrung. Durch ihre ästhetische Gegenwart hat die Tragödie, entgegen der populären Behauptung ihrer Antiquiertheit, auch geschichtliche Gegenwart für uns: Im Theater der Tragödie zeigt sich eine Erfahrung des Handelns, die in der Moderne (oder Postmoderne) nichts von ihrer Gültigkeit verloren hat. Das ist die Erfahrung ¨tragischer Ironie¨: die Erfahrung, dass Gelingen durch sich selbst, durch seine handelnde Verwirklichung, in Misslingen umschlägt. Und zwar mit ästhetischer Notwendigkeit. Denn die tragische Ironie des Handelns ist ein Effekt eben derjenigen Haltung des Zuschauens und der Reflexion gegenüber dem Handeln, die die Form des Theaters ausmacht. Das Spiel des Theaters und die Tragik des Handelns wiedersprechen sich nicht, sondern bilden zusammen die Gegenwart der Tragödie.